Giftige Pfeile, heilende Blicke
Sebastianiüberlieferung aktueller denn je! Eine Predigt zu einem außergewöhnlichen Feiertag
Wer dem lieben Gott ins Fenster schaut, der ist glücklich. Eine Predigt zum Sebastianifest über die Macht des Blicks.
Stellen Sie sich vor: Ein vollbesetzter Autobus in der Früh. Kinder fahren in die Schule, Erwachsene zur Arbeit. 99% der Menschen wischen über ihre Smartphones. Niemand redet. Plötzlich ertönt die Stimme des Fahrers aus dem Lautsprecher: „Achtung, Achtung!“ Erstaunt heben die Menschen ihre Köpfe hoch. „Hier spricht Ihr Busfahrer. Stecken Sie Ihre Geräte in die Tasche!“ Gehorsam befolgen die Passagiere die Weisung. „Und jetzt: Jetzt wenden Sie sich Ihrem Nachbarn, Ihrer Nachbarin zu. Werfen Sie ihnen einen freundlichen Blick zu und sagen sie einander: ‚Guten Morgen‘“ Ein befreites Lachen ertönt im Bus. Menschen blicken einander freundlich an; die Atmosphäre im Bus zeugt von überschäumender Freude.
In der Kirche wischt man zwar normalerweise noch nicht über die Smartphones, trotzdem: gerade an einem Gemeindefeiertag, dem Sebastianifest: werfen Sie einen freundlichen Blick auf Ihre Nachbarn! Und dies schon deswegen, weil die Geschichte des hl. Sebastian sehr viel mit der Logik der menschlichen Blicke zu tun hat. Werfen Sie also einen freundlichen Blick auf Ihre Nachbarn, geben Sie einander die Hand, lächeln Sie einander an und sagen Sie: „Ich freue mich, dass Du immer noch da bist (nach der fast einstündigen Prozession in der Kälte)!“
Ja, liebe Schwestern und Brüder, Blicke können zur Freude animieren, Blicke können Gemeinschaft stiften. Blicke können aber auch töten: vergiftete Blicke. Blicke, die mit giftigen Pfeilen vergleichbar sind. Die Überlieferung vom heiligen Sebastian kennt nicht nur die wirklichen giftigen Pfeile. Pfeile, die den Körper des Märtyrers durchbohrt haben. Auch von den Blicken – den Blicken, die die Seele vergiften – findet man dort genug. Und zwar wo und auch wie?
Der junge und fesche Bursche, ein shooting star sozusagen, in der Armee des Kaisers Diokletian bleibt ein Zielpunkt solcher Blicke. Bewundernd und neidisch zugleich schauen ihn seine Kollegen an. Auch begehrende Blicke, Blicke erotischer Natur sind auf ihn gerichtet. Eben: bewundert, beneidet, begehrt und bald auch verleumdet! Der junge Christ gerät in einen Loyalitätskonflikt, weil der Kaiser die letzte und die wohl grausamste Christenverfolgung im Römischen Reich verordnet und die Religion instrumentalisiert hat im Dienste seiner Machtpolitik. Sebastian weiß, was sich gehört. Überall, wo er nur kann, sucht er den verhafteten Christen zu helfen.
Denunziert steht unser Basti vor den Richtern und blickt ihnen direkt in die Augen. Nein! Angst hat er keine. Sein unbestechlicher Blick bürgt für die Wahrheit, der Blick, der die lügnerische Verfolgung entlarvt. Und die feigen Richter? Sie vermögen es nicht, dem klaren Blick des aufrichtigen Mannes standzuhalten, liefern ihn deswegen den Bogenschützen aus. Mit ihren giftigen Pfeilen sollen diese den Mann durchbohren, ihm also die Augen für immer schließen. Doch Sebastian? Er richtet seinen Blick nach oben. Von der Jagdmeute umgeben, von verblendeten Schützen, die wie Marionetten agieren und ihre Pfeile auf den bewunderten, beneideten und inzwischen wohl verhassten Kollegen abschießen, von den Schützen umkreist, heftet dieser Mann seinen Blick an den offenen Himmel, scheint gar dem lieben Herrgott ins Fenster zu schauen. Tausende und abertausende Gemälde und Statuen haben diesen Blick festzuhalten versucht: den Blick, der die Rettung in einer hoffnungslosen Lage verheißt. Pestkranke damals, AIDS-Opfer in der jüngsten Vergangenheit, Opfer von Seuchen, aber auch Opfer von Verleumdungen, lügnerischen Anklagen: Politiker, Kulturschaffende, Priester, „normale“ Menschen blickten und blicken auf den durchbohrten jungen Mann, den Mann, der die tödlichen Pfeile überlebt hat.
Er überlebte – und das ist ein wahres, fast modernes Wunder, ein Wunder, das seines Namens würdig ist – er überlebte, weil er nicht nur Zielpunkt giftiger Pfeile, neidischer und begehrender Blicke war. Auch ein heilender Blick ist ihm zuteilgeworden. Der Blick einer Frau! Einer Frau, deren Augen nicht entzündet waren durch die allgemein herrschende giftige Atmosphäre, die Atmosphäre der Verleumdung, die Atmosphäre des Neides und des Hasses. Irene – der Name heißt so viel wie Friede – Irene, eine Frau, die selber oft ihren Blick zum Himmel erhob, schaut den vermeintlich toten Sebastian mitleidend und liebevoll an. Sie lässt sich nicht durch die Logik des schnellen und oberflächlichen Blicks täuschen, sieht deswegen, dass der Getroffene und schwer Verletzte lebt. So nimmt sie sich seiner an, pflegt ihn, schaut ihn immer und immer wieder neu an. Liebevoll und ermunternd ist ihr Blick: „Du sollst leben!“ Irenes Blick schafft hier das Wunder!
Kaum genesen richtet Sebastian seinen Blick keineswegs auf sich selber. Nein! Er richtet den Blick auf den Kaiser, vor dem er das Unrecht anklagt. Das Unrecht, das den Christen widerfährt. Und auch der Kaiser kann seinem unbestechlichen Blick, dem Blick eines aufrechten Menschen, dem Blick, der von Wahrheit zeugt, auch der Kaiser kann diesem Blick nicht standhalten. Beantwortet deshalb die Aufrichtigkeit mit Gewalt. Sebastian wird im Zirkus zum Tode gepeitscht, sein Leichnam in die Kloake geworfen. So, als ob der klare und aufrichtige Blick durch Scheiße beschmutzt und endgültig aus der Welt weggeschafft werden sollte. Die Wahrheit sollte in der Jauche ertränkt werden.
Liebe Telferinnen und Telfer und auch all die Gäste bei diesem Sebastianifest: so altertümlich die Überlieferung vom heiligen Sebastian erscheinen mag, so hochmodern ist sie. In den Zeiten, in denen der Seitenblick die Regie führt und dies sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft: in Politik, Wirtschaft und Kultur. Der neidische Seitenblick, der schnell zum Gift werden kann und dies sowohl beim Blickenden als auch beim Angeblickten, der medial manipulierte Blick, der Menschen nicht nur durchbohrt, sondern sie auch in den Kloaken der Skandalmentalität ertränkt, dieser Blick ist eines der Grundprobleme unserer Moderne. Es ist eine Moderne, die, wenn sie nur modern sein will, auch sehr schnell modern tut! (Sie brauchen das Wort nur anders zu betonen, schon tut sich der Abgrund dieser Kultur auf.) Desinteresse, Neid, Skandallust: all das trägt dazu bei, dass menschliche Biographien immer und immer wieder in den Kloaken enden. Kann uns da der Blick der Heiligen, der Blick des Sebastian und der Blick der Irene, können uns diese Blicke helfen? Der Blick des Sebastian in das Fenster des lieben Gottes? Der Blick der Irene auf den Mitmenschen, den Verletzten, den Verunglimpften?
Mit einer Geschichte habe ich angefangen, mit einer Geschichte höre ich auf. Der Held dieser Geschichte scheint unserem Sebastian zum Verwechseln ähnlich zu sein. Jung, fesch, sportlich, ein Objekt der Bewunderung. Längst ein Star. Die Augen des Publikums sind auf ihn gerichtet. Die Zuschauer müssen des Öfteren den Atem anhalten, wenn sie ihn sehen. Wenn er ganz oben den halsbrecherischen Salto mortale am Trapez im Zirkus zeigt. Der berühmte Flieger sitzt nun vor einer Gruppe von Kindern und plaudert mit ihnen. Die Kinder haben die Nachmittagsvorstellung im Zirkus besucht. Ein Treffen mit dem Flieger ist im Programm inkludiert. Der junge Mann erzählt von seinem Leben, seinem Training, seinen Abenteuern. Und die Kinder? Die Augen weit aufgerissen, genauso wie ihre Münder. Sie sind vom Star fasziniert. Und da fragt der Flieger: „Was glaubt ihr, wer ist der eigentliche Held, der eigentliche Star des Trapezes?“ „Du!“, schreien die Kinder unisono. „Falsch!“, sagt der Flieger. „Der eigentliche Held des Trapezes ist mein Fänger. Ich mache nur ein paar Drehungen in der Luft – er dagegen muss mich ganz präzise in dem Sekundenbruchteil fangen, in dem ich auf ihn zufliege.“ „Und du? Du machst gar nichts?“, fragte unsicher eines der Kinder. „Eigentlich nicht. Wisst ihr, das wäre das Falscheste, was ein Flieger tun könnte, wenn er versuchen würde, den Fänger zu fassen. Dann würde er bloß seine Handgelenke verstauchen, genauso wie die Handgelenke des Fängers. Merkt euch: Der Flieger muss nur den Fänger im Blick behalten, genauso wie der Fänger den Flieger. Und: der Flieger fliegt, der Fänger fängt. Der Flieger muss vertrauen, der Fänger darf das Vertrauen nicht enttäuschen!“
Warum diese Geschichte beim Fest zu Ehren eines Heiligen, der seinen Blick nach oben richtete. Weil er uns dieselbe Botschaft übermittelt, die der Flieger den Kindern mitgab. „Glaubt ihr, dass ich der Held, der Star des himmlischen Trapezes bin? Nein. Es ist mein himmlischer Fänger. Ich habe ihn bloß in meinem Blick behalten. Ich habe ihm vertraut. Nur deswegen konnte ich die Sprünge meines Lebens wagen: Die Spitzenkarriere in der Armee beginnen, Rückgrat zeigen, als man mich denunzierte, das Gesicht wahren in der Gefahr! Nur, weil ich dem himmlischen Fänger vertraute, war ich immun gegen alle giftigen Pfeile, vor allem gegen alle giftigen Blicke, die auf mich gerichtet waren: die neidischen und die, die voller Verachtung und Hass waren. Nur weil ich ihm vertraute, konnte ich mich gar im Tod fallen lassen, ohne dass ich die Seele, den innersten Kern meiner Person vernichtet habe. Denn: ER, der beste aller Fänger, hat mich aufgefangen, gar im Tod aufgefangen.“ Unser Sebastian bestätigt nur die alte christliche Weisheit, eine Weisheit, die heute aktueller denn je ist: Wer dem lieben Gott ins Fenster geschaut hat, der ist glücklich. So paradox es klingen mag: Selbst in der Situation des Martyriums!